Narzißtische Kränkung ist ein Fachbegriff, den Sigmund Freud im Laufe der Entwicklung der Psychoanalyse prägte.  Als Kränkung bezeichnete er hierbei all jene Erkenntnisse, in deren Möglichkeitsbereich es liegt, dem "Ich" des erwachsenen Menschen die unangenehme Wahrheit mitteilen zu können, dass sein Anspruch auf Zuwendung, Aufmerksamkeit, Geborgenheit: 'Liebe' eines anderen, Halt und Hilfe in kirchlichen, säculären oder anderen ominösen Mächten, grundsätzlich infantil/ kindisch ist, durch und durch egostisch und vor allem illusorisch. Solche Ansprüche sind bedingt von jenen Vorstellungen des Ichs, die - anstatt von seelisch-emotioneller "Reife" zu berichten, an die früheste ("orale") Phase der Entwicklung fixiert wurden... 
Zur Veranschaulichung des Wesen dieser im Säuglingsalter zurückgebliebenen Ich-Anteile arbeitet Freud oft mit dem Hinweis auf die Sehnsucht nach embryonaler Geborgenheit im Mutterleib, ein schönes, unmißverständliches Symbol des einst erfahrenen, sorgen- und schwerelos im Uterus schwebenden Glücks. Von dieser im ÜberIch als Ozeanisches Gefühl aufbewahrten Erinnerung sind all jene Märchen und Mythen motiviert, welche von einem Schlaraffenland oder paradiesischen Garten berichten, der kaum dass er bewusst wurde, auch schon wieder verloren ging...


Das Wesen des Narzißmus

Während der psychoanalytischen Behandlung wird bewußt, was in den alltäglichen Beziehungen unbewußt bleibt, diese unerträglich gestaltend (s. Szenen einer Ehe) - und zwar die narzißtische Erwartung nach Liebe oder deren Ersatzmitteln (Geld) und die von Vorwürfen, Wut, Hass, Depression oder Verbitterung begleitete Erfahrung der Unmöglichkeit ihrer Erfüllung. Solch ein Anspruch - der Kern all unserer Liebesdramen und -tragödien - ist unberechtigt für einen erwachsenen Menschen mit seinen nach Eigenständigkeit strebenden Lebenstrieben, seiner prinzipiellen geist-körperlichen Fähigkeit zur Selbstversorgung und zur uneigennützigen Liebe, an deren Entfaltung ihn erst der Narzißmus ("Todestrieb" nach Freud) mit seinem Drang, wie ein Säugling gehütet, ernährt und zärtlich in all seinen Bedürfnissen befriedigt zu werden, hindert; so wird die schonend vorbereitete Begegnung mit der Aussichtslosigkeit dieser narzißtischen Erwartungen zu einer in hohem Maße intimen, emotional schwer verkraftbaren Erfahrung. Gerade Analytiker, die in den Vollbesitz ihrer Kräfte gelangten, die fähig zur selbstlosen Liebe wurden, werden sie ihren Klienten nicht ersparen. Sie werden ihnen  zur Seite stehen, das Wesen und Streben dieses Syndroms zu entdecken, um es nach und nach zu verarbeiten und fähig zu werden, das eigene Glück zu schmieden...

 
Übertragung und Gegenübertragung

Dies ist der erste von den zu vollziehen Schritten zur Heilung, den jeder Patient der Psychoanlyse ab dem Beginn der Durchleuchtung seiner Übertragungen auf die Person des Psychoanalytikers macht, denn er meint fälschlich von diesem - meist aufgrund der mindestens fachkundig entgegengebrachten, u.U. auch empathischen Zuwendung - ersatzweise geliebt werden zu können wie von einer Mutter.


Die Übertragung oder "Projektion" von Erwartungen, Furcht vor Enttäuschung und weiteren Affekten, ist an sich  kein  pathologischer Vorgang; sie verkörpert vielmehr ein Vermögen des Ichs: den "animistischen Glauben", mit dem das Ergründen (Kennenlernen) der gegenüber georteten Projektions'fläche' beginnt, entweder um den weiteren Kontakt zu beenden, oder um ihn zu vertiefen, je nach dem. 


Ist die Fläche der Projektionen ein Mensch, projiziert sie zurück, und als Psychoanalytiker ist 'sie' sich außerdem der Unvermeidbarkeit dieses wechselseitig stattfindenen Phänomens bewußt - die Grundvoraussetzung für das Gelingen der psychoanalytisch geführten Beziehung (s. Übertragung und Gegenübertragung). Ohne sie hätte Freud seinen eigenen Narzissmus nicht entdecken können, folglich auch nicht kontrollieren im Sinne seines und des Vorankommens seiner Patienten. Statt dessen wäre er - wie der Knabe "Narziss" über dem Spiegelbild seines Anlitzes auf der Oberfläche des Sees, durch die er wie in der Mutter Leib zu regredieren sich sehnt - bewundernd in seiner Übertragung auf den Patienten ihm gegenüber verharrt und enttäuscht bis mörderisch wütend oder depressiv geworden, dass dieser ihn nicht liebt. Oder hätte begonnen, sich mit Geld ersatzweise zu begnügen...


Narzißtische Kränkung durch die Laienanalyse

Professionalität im Sinne eines Tauschhandelsabkommens (Geld, Zuwendungen...) - also Zwecks Erwerbes einer Gegenleistung für den erbrachten Einsatz - stellt kein konzeptionelles Bestandteil der Psychoanalyse dar. Aufgrund der Entdeckung des narzißtischen Syndroms war Freud nicht nur zurückhaltend gewordenen gegen seine eigenen Reichtumsphantasien ("Geld ist kein Kinderwunsch") und den Hang zur Ausbeutung rat- und hilfloserer Menschen, er sah auch seine Neigung, die Psychoanalyse in eine machtvolle Institution im Rahmen der staatlich gelenkten Akademien, Ärztekammern usw. verwandeln zu wollen, als höchst problematisch an. Von beiden ebenso abhängig wie manipulierbar machenden Tendenzen distanziert er sich ausdrücklich in der Abhandlung Zur Frage der Laienanalyse. Die Psychoanalyse soll ein konstruktives, heilsames Bestandteil der zwischenmenschlichen Begegnungen sein (kein Verkaufsschlager) und dadurch angeeignet werden, dass man sich auf dem Wege der "Freien Assoziationen" über die Symbole der eigenen Träume mit dem Unbewussten konfrontiert - zur Not mit sich allein, idealer Weise aber mit dem Beistand eines schon erfahrenen Analytikers. Freud war zu allererst sein eigener Klient und versiertester Kritiker -  nicht aufgrund seiner erworbenen Hochschulreife: trotzdem.

Auch diese Forderung (- die zentrale Aussage in der Frage der Laienanalyse) führte zu einer Kränkung des Narzißmus. Sowohl bei Freuds selbst, wie auch bei jenen naiven Mitgliedern der jungen psychoanytischen Bewegung, die sich aus der Anwendung dieses neuen diagnostisch-therapeutischen Instruments sehr viel - so viel als überhaupt möglich eben von dem an Reichtum, Prestige
durch die Menge ihrer Patienten und Macht über sie erhofft hatten, was durch Freuds Abhandlung zurückgewiesen worden ist. Das narzißtische Syndrom mitsamt seinen symptomatischen Äußerungen soll nicht kultiviert werden, sondern ergründet und therapiert. Die akademische Analyse nimmt dies auch 100 Jahre nach Freud nicht zur Kenntnis, sondern weißt die ihr vom 'Über-Vater'  zugefügte Kränkung durch Ignoranz gegenüber der Laienanalyse zurück...

 

Kulturkreis-spezifische Kränkungen

Zur Verdeutlichung der Narzißtischen Kränkung, die jeder Mensch als mehr oder weniger unverzeiliche Zumutung für seine gesellschaftlich geprägten Scheinwerts- und -glückvorstellungen empfinden muß, griff Freud auf Beispiele von Erkenntnissen zurück, die zumindest bei Einzelnen zum (partiellen) Verlust solcher Illusionen und des damit verbundenden tödlich gekränkten Stolzes führten.

Vorzumerken für das Verständnis ist hierbei der hintergründige Sachverhalt, dass den Symbolen vom Ich-Bewusstsein eine bestimmte Bedeutung  beigemessen wird, ein Sachverhalt, der sich im Vorbewussten (ÜberIch/ "Gewissen") konsolidiert. Dadurch werden die Bedeutungen mit Affekten besetzt, die nicht unbedingt dem Narzißmus entstammen; es kann sich auch um positiv emotionalisierte, ES-zugewandte Symbole handeln, je nach dem, wer sie ersinnt oder verwendet. Ist es nicht Die Krone der Schöpfung (der seelisch-emotionell gesunde, artgerecht sozialisierte Mensch), dann hat ein derart fehlgeprägtes Über-Ich zur Folge, dass das an die Wahrhaftigkeit jener Bedeutungen glaubende Ich sich an die Äußerlichkeit der Symbole zu klammern versucht als hinge sein Leben an einem Faden über dem Abgrund, in dem sich der unheimliche Dark Continent seiner vorbewussten Perversitäten und ins Tiefe Unbewusste gewaltsam verdrängten Triebe auftut, den Faden in panischer Todesangst verteidigend gegen jene, die an ihm schneiden. Derartige Abwehrreaktionen führen unter anderem zum Phänomen der Inquisition/ Teufelsaustreibung).

Solche Maßnahmen - vergleichbar der Panik 'Dagobert Ducks', als er merkt oder glaubt, dass die 'Panzerknacker' ihm seinen  Liebesersatzhalt zu entwenden drohen, sind narzisstisch motiviert.

Auch ein wirklicher Überfall also, der zum Verlust eines 'real existierenden' Goldschatzes führt, kann eine schwere Narzißtische Kränkung auslösen, wiederum vorausgesetzt, der Beraubte sei ein Narzißt. Es bedarf etwas psychologischen Einfühlungsvermögens, um zu verstehen, worauf der auch vor Mord nicht zurückschreckende "Widerstand" der sich durch die Naturwissenschaft beraubt Fühlenden beruht. Die drei Beispiele, die Freud hinzuzieht um das Phänomen der narzißtischen Kränkung zu illustrieren, sind nun folgende:
  • Kopernikus' Entdeckung, durch die die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerückt wurde, in dem sie der Kirchenlehre gemäß stand - im Zentrum der göttlichen Aufmerksamkeit
  •  Charles Darwins Theorie zur evolutionären Heimat des Menschen im Reich der Primaten, was nicht nur die biblische Schöpfungsgeschichte sondern vor allem den Glaube des Menschen an sich als vernunftbegabtes Exklusivgeschöpf Gottes ad absurdum führte (Interessante juristische Abwehrreaktion von Seiten der Religion: "Der Affenprozess".)
  • und schließlich das Verdienst der Psychoanalyse, die Menschheit mit der Erkenntnis konfrontiert zu haben, dass das Ich samt seiner in Gott oft das Superlativ seiner selbst erblickenden Analytik, nur einen verhältnismäßig winzigen Bereich gegenüber dem des Unbewussten einnimmt und vor allem: nicht weiß, was darin geschieht
Das ICH ist nicht nur fehlbar ("Irren ist Menschlich"), es ist vor allem nicht Herr im eigenen Hause. Es ist beherrscht von den Affekten der körperlichen Bedürfnisse seines ES,
geknechtet von der Macht der frühkindlich ins ÜBER-ICH geprägten Moralerziehung, Traumata der totemischen Pubertätsritale, Jugendweihen, Neurosen und zahllosen weiteren ent sätzlichsten Perversionen, von denen insbesondere unsere Träume berichten. TRAUMDEUTUNG ist nie und nirgends unterhaltsam: die Situation der Menschheit und aller vereinzelten Einzelnen ist prekär...


Narzißtische Kränkung und Religionskritik

Nach Freud hat der religiöse Glaube seinen Ursprung in jenen sich nach kindisch verantwortungsfreier Geborgenheit unter einer höheren Macht sehnenden Ich-Anteilen, deren Wünschen gemäß die zwischenmenschlichen Beziehungen und Institutionennach ihrem Ebenbilde gestaltet
("Vater Staat", "Mutter Kirche") und sonst als "lieber Gott" auf den Kosmos projiziert werden, ihn animistisch mit den eigenen Wünschen und Affekten 'belebend'. (Übertragung ohne Gegenübertragung.) So stellt die psychoanalytische Religionskritik ("Eiapopeia vom Himmel") eine weitere narzisstische Kränkungen dar/ - Nietzsches "Gott ist tot!" ihren Vorläufer... 

Ihre Fortsetzung findet sich in der Diskussion um die möglichen Ursachen und therapeutischen Konzepte zur Behebung der Instinktverarmung des neurotischen, infantilen 'homo sapiens' der Gegenwart. Aktuell gipfelt sie in der Hypothese, daß der Homo sapiens von Natur aus kein Mensch bzw. Narzißt ist, sondern ein gesundes Tier - die vielleicht schwerste aller Narzißtischen Kränkungen.

 

Versuch einer Gegenkränkung

Einige Gegner der Psychoanalyse wenden dagegen ein, die von Freud wohldosiert verabreichten Kränkungen (eigentlich: Erkenntnisse) seien kaum geeignet, das von ihm diagnostizierte Leiden zu kurieren, und empfählen alternativ ihre eigenen Methoden - die langbewährten Heilslehren der Konfessionen, rationalistische Metaphysik, bewusstseinserweiternde Drogen und legale psychopharmazeutische Kuren. "Gesundheit" wird anhand eines statistisch erhobenen Mittelwerts ("Normalität" des Narzißmus) formuliert... ob aus neurotischer Ignoranz, oder um sich vorbeugend gegen die Gefahr einer Ansteckung mit Freuds Thesen zu immunisieren (Psychoanalyse als "Krankheit"), bleibt offen. So wird die Psychoanalyse, die das Phänomen der Narzißtischen Kränkung entdeckte, selber pathologisiert
. Beide Welten trennt wie eine unüberbrückbare Kluft das "Unbewusste", aus dessen Symbolen Freud alle seine Offenbarungen gewann, auf das ES hinhörend und tuend, wonach ihm verlangte.